Meine Themenwelten haben sich klar zurechtgeruckelt: Ich bin Ihr personal textcoach, biete Ihnen als Selfpublisher im Bereich Sachbuch jede nur erdenkliche Hilfe an – mehr dazu in meinem Verlag Texthandwerk. Und ich bin „50plus-Expertin“. Das alles zusammen führt mich natürlich immer wieder auf die Suche nach guten Sachbüchern. Und zu meinen Themen passenden Inhalten. Alles auf einmal habe ich bereits letztes Jahr mit solcher Deutlichkeit gefunden, dass es gleich mehrmals „Klick“ gemacht hat. Ich rede von dem Buch „„Die Kraft der Kriegsenkel“ von Ingrid Meyer-Legrand. Erschienen 2016, unter anderem hier erhältlich.
Ja , ich habe bereits schon mal darüber geschrieben. Aber für mich ist die Sache ein wirklich nachhaltiges Thema, das mich vermutlich noch lange begleiten wird .. Ich finde, das ist es wert. Denn kaum ein Thema geht die Generation der heute über 50-Jährigen mehr an als dieses. Meine ich zumindest. Und gerade auch, weil ich mit meiner edition texthandwerk unter anderem neben Sachbüchern auch Biografisches im Blick habe, ist dieses Buch ein wichtiger Baustein – mit vielen nützlichen Tipps und Erkenntnissen.
Zunächst einmal die notwendige Begriffsklärung: Kriegsenkel – was soll das bedeuten? Die exakte Definition lautet: „die 1950er bis 1980er Jahrgänge“ – also die Kinder jener Menschen, deren Eltern den Krieg erlebt haben. Enkel eben. An diese „Kriegsenkel“ wendet sich Ingrid Meyer-Legrand. Wenn wir 50plus sind, also direkt an uns. Wir sind als Kinder unserer „traumatisierten Eltern im diffusen Schatten des Nationalsozialismus aufgewachsen.“ Und viele von uns ahnten bislang schlicht nicht, wie sehr uns das geprägt hat.
Mut und Kraft schöpfen
Meyer-Legrand ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, führt als Systemische Therapeutin, Supervisorin und Coach ihre eigene Praxis in Berlin und Brüssel, seit vielen Jahren schon hält sie Vorträge, Seminare und Workshops zum Thema „Kriegsenkel“, zahlreiche Fachveröffentlichungen zum Thema gibt es von ihr bereits, aber „Die Kraft der Kriegsenkel“ ist ihr erstes Buch dazu.
Das Wort „Kraft“ ist wichtig. Denn es wird natürlich auch Schreckliches, zutiefst Ungerechtes, Trauriges, mehr oder weniger Lebenshemmendes beschrieben. Am Ende bleibt Meyer-Legrand aber doch ganz nah am Buchtitel und beschreibt nachdrücklich all die Kraft, die uns aus dem Erbe unserer oft schwer traumatisierten Eltern – der Generation der „Kriegskinder“ – erwachsen kann. Etwa: „Vielfach zu beobachten ist auch, dass Kriegsenkel sich durch den Reflexionsprozess der letzten Jahre von der stellvertretenden Schuld für die Schuld, die ihre Väter oder Mütter als Heranwachsende auf sich geladen haben, in gewisser Weise befreit haben und sich zugleich verantwortlich zeigen für die Ausgestaltung unserer Gesellschaft hin zu einer mitfühlenden, menschlichen und demokratischen, in der die Unterschiedlichkeit, das Andere oder das Fremde als Bereicherung erfahren werden. So kann die nächste Generation eine befreite Generation sein. Darin besteht das gesellschaftliche Potenzial der Kriegsenkel.“ Das macht Mut. Für den persönlichen Lebensweg wie auch im Hinblick auf die Flüchtlinge, die gerade wir „Kriegsenkel“ wohl besser als sonst jemand auf ihrem Weg begleiten könn(t)en.
Touché!
Doch der Weg zur persönlichen Loslösung von all diesen lange gar nicht realisierten, oft unbewusst übernommenen „Schuld“-Gefühlen ist alles andere als leicht. Da lagen und liegen viele Steine im Weg rum. Natürlich meist in uns selbst, oft aber auch in unreflektierten, irreführenden gesellschaftlichen (Vor-)Urteilen, mit denen andere auf unsere Generation blicken. Etwa der Behauptung, wir seien narzistisch, „passiv aggressiv fordernd“. Zum Beispiel, wenn wir das Leben „nicht bis zur Rente aufsparen“ wollen. Oder Dinge fordern wie: „Die Arbeit sollte Sinn ergeben und Freude bereiten“. Touché! Spätestens hier fühlte ich mich beim Lesen erwischt, getroffen, ziemlich genau beschrieben. Weitere Argumente für dieses Buch:
- Zum einen ist es ein wunderbares Erlebnis, beim Lesen zu erkennen: Ich stehe mit diesen Fragen und Problemen nicht allein, wir sind viele! Problem-Anzeigen, an denen sich das erkennen lassen könnte, könnte das ständige Zwischen-allen-Stühlen-Sitzen sein. Oder die Tatsache, nie wirklich Erfolg „wagen“ zu können, zu wollen, ihn genauso wenig zulassen zu können wie Zufriedenheit. Statt dessen immer kurz vor einem Abrutschen in Burnout und/oder Depression zu stehen – und gleichzeitig zu ahnen: „Da stimmt was nicht! Ich kriege es nur nicht zu fassen!“ Selbst die zunehmend erkannt Hypersensibilität kann ein Indiz sein. Denn: Ja! Das alles sind typische Reaktionen und Probleme der Kriegsenkel. Und Meyer-Legrand erklärt sehr schlüssig, warum das so ist. Wie es dazu kam, wie sich damit umgehen lässt. Und welche Chancen in der Grunddisposition der Kinder von „Kriegskindern“ stecken.
- Zum anderen: Selten habe ich ein Buch schon beim Lesen mit so vielen persönlichen Anmerkungen übersät. (Ja! Ich mache das oft, meiner Ansicht nach erwachen Bücher dadurch zu Leben. Und das dürfen sie…) Kurz: Ich fühlte mich sofort sehr persönlich angesprochen. Und denke, die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, dass ähnlich altem Menschen das auch ähnlich gehen wird…. Wie wäre es damit: Statt – wie die meisten Jüngeren – wenigstens zu versuchen, gradlinig ein angestrebtes Ziel zu erreichen, sind wir es gewohnt, „immer den längeren Weg zu nehmen , das wird auch in Bezug auf das Älterwerden nicht anders sein“. Warum tun wir das? Meyer-Legrand sagt: „Aus Loyalität mit den Eltern, die oftmals eine schmerzliche oder tragische Geschichte haben, nehmen sich Kriegsenkel häufig zurück.“ Das ist weder narzistisch noch „passiv aggressiv fordernd“ – wie jemand denken könnte, dem die Zusammenhänge nicht klar sind. Nein, die Kriegsenkel sind „keine Versager […], sondern sie versagen sich“ und zeigen mit ihrem Verhalten oft genug, dass sie manche Erwartungen einfach nicht erfüllen wollen. Und das macht einen gewaltigen Unterschied.
- Ein echter Augenöffner war für mich auch der Erfahrungsbericht von Renate, die in dem Buch sagt: „Ich muss alle zwei Jahre meinen Job wechseln!“ Meyer-Legrand hält auch das für ganz typisch für die Generation der Kriegsenkel: Wir wenden uns immer wieder neuen Lebensentwürfen zu, erfinden uns „noch einmal ganz neu“. Auf mich trifft das jedenfalls hundertprozentig zu! Die Autorin versteht dieses „Hin- und Herpendeln zwischen Rastlosigkeit und Stillstand“ durchaus als eine „Strategie“. Und zwar eine, in der sich ein großes Potenzial der Kriegsenkel offenbart, „in der Suche nach einem authentischen Leben“. Sie hat einen schönen Begriff für dieses Verhalten gefunden: „Stop & Grow“ nennt sie es, eine „Strategie der Kriegsenkel, Balance in ihr Leben zu bringen“. Auch wenn Meyer-Legrand dahinter ein Fragezeichen setzt, antworte ich klar: Ja, genau darum geht es. Um die Suche nach einem Weg, auf dem sich gesellschaftliche Verantwortung und individuelle Bedürfnisse vereinbaren lassen und der mich gleichzeitig in Sicherheit bringt „vor dem allzu rabiaten Zugriff einer neoliberalen Gesellschaft“ – die jede Authentizität unmöglich machen würde.
Dies waren meine ganz persönlichen „Augenöffner“ – aber ich bin sicher, jede/r findet andere in diesem Buch, das zu großen Teilen aus Erfahrungsberichten jener Menschen aus der Generation der Kriegsenkel besteht, die die Praxis von Meyer-Legrand aufsuchten. Das allein ist sehr spannend, sicher nicht nur für die Generation der Kriegsenkel….
Praktische Instrumente für alle Kriegsenkel
Doch das Buch kann noch mehr: Es bietet aus der Erfahrung der Therapeutin, die sich so lang und intensiv mit dem Thema auseinandersetzte, zwei ganz praktische Instrumente an. Beide stehen unter der sehr wichtigen Überlegung, dass jeder biografische Verlauf nur dann zu verstehen und richtig zu bewerten ist, wenn er „im Schnittpunkt von individueller und gesellschaftlicher Geschichte“ begriffen wird.
- Zum einen bietet sie das Instrument des „Genogramms“ an. Dabei geht es darum, sehr intensiv die Wege, Lebenslinien, Schicksale, Botschaften und Anliegen unsrer Vorfahren zu betrachten, zu erkennen, wie Erinnerung überhaupt funktioniert, wo unsere individuellen Handlungsentwürfe ihre Wurzeln haben, um sich im Idealfall am Ende mit seinen Ahn/innen verbunden zu fühlen, ja vielleicht gar stolz auf die eigne Familie sein zu können: „Aus meiner Erfahrung als Therapeutin weiß ich, dass das Selbstbewusstsein der Einzelnen wächst, wenn sie auf ihre Herkunftsfamilie stolz sein können. Es gibt ihnen einfach Kraft.“ Und aus solchen „Ressourcen“ lässt sich dann durchaus Kraft für drängende, aktuelle (Lebens-)Fragen schöpfen.
- Zum anderen ein Instrument, das sie „My Life Storyboard“ nennt. Dabei geht es vor allem darum, die „Optionsvielfalt“, unter der wir heute oft leiden, besser in den Griff zu bekommen. Und zwar mit dem Blick gleichermaßen auf unsere Kompetenzen wie auf mögliche Beschränkungen und gesellschaftliche Einflüsse von außen – etwa den „Zeitgeist“, die realen Gestaltungsräume etc. Der wichtigste Schritt der Storyboards besteht darin, das Erkannte auf die eigenen Fragen und Probleme von heute anzuwenden.