Wir schreiben 1990-nochwas, das Jahrzehnt, das zumindest teilweise noch vom deutschen Boom der modernen, wilden Kunst der 80er Jahre profitiert. Mein Chef ist einer jener Galeristen, die in dieser Zeit zu den Stars der Kunstwelt zählten – und zwar völlig zu Recht: Hans-Jürgen Müller, Mitbegründer der Art Cologne, Autor des Buchs mit dem viel zitierten Titel „Kunst kommt nicht von Können“. Später geben wir gemeinsam Ausstellungskataloge heraus, verleihen Förderpreise an herausragende Künstler – etwa gemeinsam mit Bazon Brock -, werden 1992 von Jan Hoet auf die documenta IX eingeladen… Kurz: Wer bei Hans-Jürgen Müller ausstellt, hat ziemlich gute Chancen, als Künstler bekannt(er) zu werden. Müller liebt seine Arbeit, ist einer der wenigen Galeristen, die sich vollkommen in den Dienst ihrer Künstler stellen können, stellen wollen. Denn er bewundert einfach den Mut all jener, die bedingungslos für und mit Kunst arbeiten. Und ist damit der perfekte Matching-Partner für alle Künstler: selbst ist er Galerist, Grafiker und Schriftsetzer. Das hat er gelernt, seine Rolle aber sieht er immer als Vermittler.
Vieles davon lerne ich von ihm, bei andrem muss ich passen…. Meine Handschrift zum Beispiel, die findet er schrecklich. Meine Buchstaben seien so ungleichmäßig, ich solle üben, findet er. Versuche ich. Und beschließe: Ne, so wie sie ist, gehört sie zu mir…
Ganz schwierig: Die Einschätzung von Kunst
Anderes ist schlicht und einfach un-lernbar. Die Einschätzung von Kunst zum Beispiel. Da kann man nur beobachten, reflektieren, aufnehmen. Und dann muss was passieren…. Wie im Schwimmbad: Verdammt, wie springt dieser Mensch nur immer so sicher vom Zehnmeterbrett?! Genauso schubst Müller mich eines Tages ins kalte Wasser. Einfach so.
Am Strand von Oostende steht diese Hommage an Jan Hoet von Kris Martin. Auch hier stehe ich zwischen zwei Welten – beste Position für eine Dolmetscherin
Zurück nach Stuttgart: Fast täglich geben sich die Künstler in Hans-Jürgen Müllers Galerie die Klinke in die Hand, immer eine dicke Mappe mit eignen Werken unterm Arm. Nie weist Müller jemanden ab, kommt er oder sie auch noch so unangemeldet. Er begutachtet, überlegt, gibt Tipps, sagt aber oft auch ganz klar „nein“. Oder verweist an Galerie-Kollegen. Es sind schrecklich arme Schlucker drunter. Menschen, die nur für ihre Kunst leben, sich kaum eine Mahlzeit leisten. Das siehst du sofort. Immer. Aber auch, wie die meisten von ihnen für ihre Arbeit brennen. Eine meiner ersten Lektionen ist, dass Mitleid ein ganz schlechter Ratgeber ist. Denn ich sehe auch viele Künstler ver-brennen.
Es gibt so viele Sprachen des Erzählens
An dem Tag, von dem ich hier erzähle, stand wieder einer dieser „brennenden“ Künstler in der Galerie. Müller ruft mich dazu, als alle Arbeiten auf dem Boden ausgebreitet liegen. Instinktiv gucke ich mir zuerst den Menschen an: undefinierbar alte, trotzig zusammengeworfene Klamotten am Leib, dieses Flackern in den Augen – nein, nicht von Drogen, sondern von Arbeitsbesessenheit. Das alles kenne ich schon. Sagt allerdings nullkommagarnix über die präsentierte Kunst aus. Ich habe Künstler kennengelernt, die kriegen die Zähne nicht auseinander, erzählen aber in ihrer Arbeit fantastische Geschichten. Andre sind über alle Maßen charmant, doch ihre Kunst bleibt seltsam flach. Ungehobelte Menschen, die großartige Kunst machen, ganz Unscheinbare, deren Arbeit von einer alles verzehrenden Leidenschaft geprägt ist…. Kurz: Mensch und Werk können völlig verschiedene Dinge erzählen. In unterschiedlichen Sprachen.
Ab ins kalte Wasser…
Und dann kam er, der Schubs ins kalte Wasser: „Maria, isch des was oder isch des nix?!“ (Schwäbisch konnte er, der Müller aus Ilmenau bei Weimar…) Er zeigt auf die Bilder am Boden, verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. Ich weiß: Von ihm kommt da jetzt gar nichts mehr. Das ist ihm völlig ernst: Ich bin an der Reihe! Was immer ich jetzt sage, wird eine Entscheidung sein. Die bedeutet was, auch für das Fortkommen dieses jungen Mannes. Ja: Du hast eine Verantwortung!
… besser „mitten ins Schwarze“!
Mir wird schwindlig. Zwinge mich dazu, nicht den Menschen anzustarren, sondern die Kunst. DIE ist es, die zu mir reden muss. Zwinge mich, nicht meinen Kopf, sondern mein Bauchgefühl sprechen zu lassen. Schließlich habe ich meinen Chef nicht umsonst monatelang intensiv beobachtet – er ist übrigens leider 2009 gestorben.
Der Mann hatte ein fabelhaftes Bauchgefühl, einen „Riecher“, ein „Näschen“ – wie immer man das nennen mag. Im Gespräch oft polterig, waren seine Bauchentscheidungen – wenn es um Kunst ging – fast immer Volltreffer. Mitten ins Schwarze, ins Herz des Zeitgeschmacks oder ihm voraus, manchmal schlicht zeitlos gültig. Nie geschmäcklerisch, oft Neues, nie auf diese Weise Gesehenes. Das war es, was er auswählte, was er unterstützte. Kunst, die genau das tut, was Kunst meiner Ansicht nach immer tun sollte: Menschen auf eine rational kaum fassbare Weise zu berühren. Und vor allem: Was er ausstellte, war immer in sich stimmig. Schwer zu erklären, war aber so.
Hör dir selbst gut zu!
Also: erst Bauch, dann Kopf, dann: Raus mit der Sprache! Dazwischen ganz viel Herzklopfen. Ich war unvermutet und plötzlich mitten in einem existentiell wichtigen Test, dessen Lektion ich bis heute nicht vergessen habe: Hör dir selbst gut zu! Entscheide mit dem Bauch, pass auf, dass der Kopf mit seiner angeblichen Vernunft nicht kaputt macht, was du besser wissen solltest!
Ich hatte wirklich Schiss. Dass ich was Falsches sage. Falsch für mich und falsch für den armen Künstler, der da fast zitternd wartete.
Schließlich sagte ich JA. Und meinte es genau so. Kein „vielleicht“, kein „Ich glaube…“ Ich spürte und wusste: Es ist richtig. Und es WAR richtig. Später bekam eben dieser Künstler den Hans-Jürgen-Müller-Förderpreis aus den Händen und mit einer Laudatio von Bazon Brock. Und noch später schnappte sich Jan Hoet bei seinem Besuch in unsrer Galerie exakt jene Zeichnungen eines andren, unbekannten Künstlers aus einem riesigen Werk-Konvolut, die ich vorher (aus ganz anderen Gründen) als beste Arbeiten bezeichnet hatte – die gingen direkt in die documenta IX.
Ja: Ich hatte gelernt, wie die Kunst mit mir kommuniziert. Hab ihre Sprache gelernt, höre, was sie mir sagt. Und ich kann das in Worte fassen… Seitdem sehe ich mich wirklich unter anderem auch als Dolmetscherin. Für all jene, deren Sprache aus ganz anderen Medien und/oder Mitteln als aus Worten besteht… Wer sich dafür interessiert: Darum habe ich als Texthandwerkerin unter anderem das kreative Handwerk in den Blick genommen. Denn nicht nur die Bildende Kunst, sondern auch viele anderen Bereiche kreativer Arbeit brauchen eine gute Dolmetscherin – davon bin ich fest überzeugt….
Und noch mal: Kreativität und Handschrift
Und diesen ganzen Text hier verdanke ich dem Blogbeitrag der wunderbaren Gerda Kazakou, die – wie mir auch erst auf den zweiten Blick klar wurde – damit eine Lücke geschlossen hat zwischen meinen Überlegungen zu den „PR-Typologien“ Selbstständiger und meiner Positionierung als Texthandwerkerin. Ihr geht es bei der Handschrift um Zeichnung, um Malerei. Zitat: “ ‚Wenn du keine eigene Handschrift entwickelt hast, ist deine ganze Kunstfertigkeit nichts‘. So grummelte ich gestern vor mich hin“ – und schreibt dann einen – wie ich finde – sehr anregenden Beitrag über die eigne Handschrift. Meine Strategie entspricht wirklich eher einer Handschrift „mit Blubb“ – und das verdanke ich nicht zuletzt auch den Lektionen des großartigen Hans-Jürgen Müller.
Bei mir wurde daraus der Eigensinn
Gut zwanzig Jahre nach meiner Zeit in der Galerie Müller hatte ich meinen eigenen Kreativitätszugang endgültig gefunden. Es ist ohne Zweifel der Eigensinn. Und ich bin sicher, dieser Weg steht allen Menschen offen, die Zugang zu ihrer Kreativität suchen. Wie das gehen kann, beschreibe ich in Band eins der Trilogie des Eigensinns: „Mein Kompass ist der Eigensinn“ heisst das Buch. Band zwei: „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“.
In eigener Sache
Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.