Lilly Liebig ist gelernte Goldschmiedin, machte 1971 ihren Abschluss an der staatlichen Fachschule für Glas und Schmuck in Kaufbeuren, in Neugablonz. Aber ihre Liebe gehört seit jeher dem Glas-Handwerk. Sie hatte durchaus auch andere Berufe, doch das Handwerk ließ sie nie los. Denn sie ist inzwischen eine der letzten Glasperlenwicklerinnen, arbeitet mit einem historischen Instrument des Glashandwerks, dem „böhmischen Lampenfeuer“, ist Glaskünstlerin und Seniorenvertreterin in Köln-Ehrenfeld. Das ist eine ganze Menge, was da an Leidenschaften, Engagement und Praxiswissen zusammenkommt. Und alles fügt sich wunderbar zusammen – zu einem sehr konkreten Traum, den Lilly Liebig umsetzen möchte, für dessen Realisierung sie sehr gern mit anderen, ähnlich denkenden Menschen zusammenarbeiten würde. Stichwort ist „der Handwerkerhof“ – davon gleich mehr.
Erfahrung, Praxiswissen, Geduld und Fingerspitzengefühl
Der Reihe nach: Das Stichwort „Neugablonz“ ist wichtig, denn Gablonz in Nordböhmen war bis zum Zweiten Weltkrieg einer der größten, wichtigsten und einflussreichsten Glas- und Mode-Schmuckherstellungsorte Europas, Firmen wie Swarowski und Riedelglas haben dort ihren Ursprung. Neugablonz wurde 1946 von aus Böhmen vertriebenen Handwerker/innen gegründet, auf dem Ruinenfeld eines Munitionsgeländes in Kaufbeuren. Dort hat Lilly Liebig gelernt.
Glasperlenwickeln ist ein sehr spezielles Handwerk, es braucht extrem viel Erfahrung, Praxiswissen, Geduld und Fingerspitzengefühl. Die hat Lilly Liebig ganz ohne Frage. Dass sie damit individuellen Schmuck, ganz und gar auf die Träger/innen abgestimmt, anfertigt, versteht sich fast schon von selbst. Dazu kommen Glaskunstobjekte – die Frau ist ungeheuer kreativ. Und hat eine ausgeprägt soziale Ader: Nachdem sie lange ehrenamtlich in verschiedenen Bereichen gearbeitet hatte, ließ sie sich 2017 dazu überreden, als Seniorenvertreterin in Ehrenfeld zu kandidieren, wurde auf Anhieb gewählt – und zwar mit sehr gutem Ergebnis.
Handwerk vor dem Aussterben bewahren!
In Köln hatte sie mehrere Geschäfte, etwa im Belgischen Viertel und Rodenkirchen, bevor sie 2011 in der Ehrenfelder Glasstraße die für ihr Handwerk so ideale Adresse fand. Denn es ist nicht nur ein Name, es ist weit mehr als das: „Ich habe das Glas zurück nach Ehrenfeld gebracht“, sagt sie – nicht ohne berechtigten Stolz. Denn es ist wahr: Noch 1913 waren in Ehrenfeld drei Glashütten in Betrieb, von 1930 bis 1937 nur noch eine, dann war Schluss mit den Ehrenfelder Glashütten.
Glasperlenwickler/innen gibt es heute auch nicht mehr allzu viele, 1970 wurde die handwerkliche Ausbildung zum Glasperlenwickler im Zuge einer Berufsreform ersatzlos gestrichen. Schon 2009 erzählte Lilly Liebig einer Journalistin, sie fühle sich „berufen, dieses Handwerk vor dem Aussterben zu bewahren.“ Heute geht sie noch einen Schritt weiter: Heute träumt sie davon, ihre beiden „großen Themen“, das Älterwerden und das Praxiswissen des aussterbenden Handwerks zusammen zu bringen, ganz praktisch zu leben. Es geht um ihr großes, neues Projektziel, einen Handwerkerhof.
Der Handwerkerhof
Wenn Lilly Liebig „Handwerkerhof“ sagt, leuchten ihre Augen. Und sie hat sehr viele, sehr gute Gründe für dieses Projekt. Erstens weiss sie als eine von deutschlandweit nur noch sehr wenigen, professionell ausgebildeten Glasperlenwicklern sehr genau, wovon sie redet: Sie war eine der letzten, die diesen Beruf noch lernen konnten, bevor er von der Agenda der handwerklich weitergegebenen Ausbildung verschwand. Damit steht dieses Handwerk beileibe nicht allein: 370 Berufe und Berufsbezeichnungen hat wikipedia hier gesammelt – allerdings ist nicht alles davon dem Handwerk zuzurechnen. Um nur einige zu nennen: Hutmacher, Bernsteindreher und Kohlenbrenner.
Doch solche Listen haben oft etwas Exotisches, Nostalgieverdächtiges. Und genau das findet Lilly Liebig falsch. Ihr wichtigster Ansatz ist: „Es geht darum, das deutsche Handwerk als immaterielles Kulturerbe zu stärken. Und praktisch zu leben.“ Die Weitergabe von Praxiswissen ist dabei ihr wichtigstes Ziel: „Die direkte, praktische Wissensweitergabe war immer zentraler Bestandteil aller handwerklichen Ausbildungen. Die Praxis zählt. Und die muss weitergegeben werden.“ Sie will diesen Wissensschatz erhalten – und zwar „im realen Leben, nicht nur auf Mittelaltermärkten!“ Nur so würde die Bedeutung des Handwerks in seiner ganzen Bandbreite auch weiterhin sichtbar, in der Praxis (er-)lebbar. Das sei bitter nötig, sagt sie – und verweist darauf, dass das zwar eine allseits bekannte Tatsache ist – doch niemand zieht daraus die Konsequenzen. Da kommt ihre Idee eines Handwerkerhofs ins Spiel.
Wie soll das konkret gehen?
„Ich möchte kein Museum errichten, sondern Handwerkstechniken und Handwerkswissen an einem zentralen Ort real gelebt abrufbar machen.“ Das ist der Traum der Handwerkerin Lilly Liebig. Konkret bedeutet das: Sie möchte einen Handwerkerhof gründen, in dem acht bis zehn Handwerkerinnen und Handwerker gemeinschaftlich leben und arbeiten können. Und zwar auf Genossenschaftsbasis – damit das, was sich dort manifestiert, problemlos weitergegeben werden kann – auch an folgende Generationen.
Gemeinsam leben und arbeiten
Alle, die da leben und arbeiten, sollen eine eigene Wohnung haben. Aber es soll auch Gemeinschaftsräume und vor allem Werkstätten geben – zu festen Zeiten für alle Interessierten geöffnet. Denn es geht auch um Nachwuchsförderung, workshops, Vorträge, offene Veranstaltungen aller Art, Besuche von Schulklassen und/oder ratlosen Jugendlichen auf der Suche nach der für sie richtigen Ausbildung, älteren Interessierten, Fach- und Informationsgespräche …
Es gehe darum, „Menschen für das Handwerk zu sensibilisieren“, sagt Liebig. Und auf diese Weise all das zu bewahren, was mit dem Wegfall der Handwerksberufe sonst automatisch mitsterben würde: Instrumente, Techniken, Praxiswissen, historische Tatsachen.
Am besten sollten die im Handwerkerhof lebenden Menschen am Ende ihres „Erwerbslebens“ stehen – und trotzdem noch gern mit und in ihrem Handwerk arbeiten. Natürlich dürfen sie auch jünger – dann aber nicht mehr zu hundert Prozent auf das Geldverdienen aus ihrem Handwerk angewiesen – sein.
Offene Begegnungsräume
Wichtig ist ihr die Idee einer zentralen Anlaufstelle: Der Handwerkerhof soll ein Ort werden, an dem man sich informieren und aus erster Hand auch praktisch lernen kann – wenn man das möchte. „Wo gibt es denn heute solche Anlaufstellen?“ fragt Liebig. Sie weiß es, denn sie hat recherchiert: Etwas Vergleichbares gibt es im deutschsprachigen Raum heute (noch) nirgendwo.
Und es geht um die „tägliche Praxis, die kaum oder gar nicht in Büchern beschrieben ist.“ Dazu braucht es versierte Handwerkerinnen und Handwerker, die gern mit jungen Menschen Umgang haben, ein seltenes, vom Aussterben bedrohtes Handwerk betreiben. Und ihre Arbeit ähnlich einschätzen wie Lilly Liebig: „Ich habe mich immer als gemeinschaftlich Arbeitende gesehen.“ Dass mit diesem Projekt auch einer drohenden Einsamkeit der älteren Handwerkerinnen und Handwerker vorgebeugt werden kann, ist wahr. Es wird aber angesichts all der praktischen Vorteile derart komprimiert vermittelten Handwerkswissens fast schon zur Nebensache – wenn auch keiner unwichtigen.
Interesse?
Wer Lust hat, dieses Projekt gemeinsam mit Lilly Liebig weiterzudenken, voranzutreiben und schließlich zu realisieren, wer wen kennt, der vielleicht Interesse hätte, eine dafür brauchbare Immobilie im Auge hat, oder einfach weitere Infos möchte, der kann sich jederzeit bei ihr melden: lilly@lilly-liebig.de
Kontakt
Direkt in ihrem Geschäft in der Glasstraße 72a in Ehrenfeld, ist sie zu folgenden Zeiten erreichbar: Mittwoch bis Freitag von 15 bis 18 Uhr, Samstag von 11 bis 15 Uhr oder telefonisch unter 0221/70 00 41 48.
Mehr über Lilly Liebig und ihre Arbeit im Unruhewerk hier.
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