Doris Dörrie fordert in ihrer wunderbaren „Einladung zum Schreiben“ („Leben – Schreiben – Atmen“, so der Haupttitel) unumwunden auf: „Schreib über eine Begegnung mit einem Kind. Erinnere dich, wie du selbst gespielt hast, hochkonzentriert und selbstvergessen. Dieser Zustand ist eine Beschreibung von Glück. Es gibt ihn auch beim Schreiben, wenn man nicht zu viel nachdenkt, sich nicht selbst über die Schulter schaut und kritisiert. Dazu gehört eine Portion Mut. Wie zum Spielen auch.“
Spiel UND Ernst
Ich liebe dieses Ende 2019 erschienene Buch – das beinah mein eigenes überflüssig zu machen drohte, so gut finde ich das, was Doris Dörrie da tut … Nur die Tatsache, dass sie den Eigensinn nicht im Blick hat, ließ mich mein eigenes Buch Wer schreibt, darf eigensinnig sein überhaupt zu Ende schreiben. Was ich an Dörries Buch so großartig finde, ist ihre Mischung aus eigenen, sehr persönlichen, ganz assoziativen Geschichten und den gar nicht zeigefinger-mäßigen Aufforderungen zum Selberschreiben. Das gesamte Buch ist Spielanleitung, Spiel und Ernst zugleich.
Für Doris Dörrie gehört zum Spielen wie zum Schreiben durchaus auch Mut, das trifft sich mit meiner Definition vom Schreiben als Abenteuer. Denn die zitierte Passage geht weiter: „Kannst du dich erinnern, wie es sich angefühlt hat, wenn man die Regeln nicht verstand oder die anderen die Regeln einfach geändert haben? Wenn sie die tolle Sandburg, die man gebaut hatte, nicht toll gefunden haben? Da half auch immer nur: weiterspielen. Also weiterschreiben. Sich immer von Neuem hineinstürzen in die Welt der eigenen Erinnerungen und Phantasie, wie Alice in das schwarze Loch, das ins Wunderland führt.“ Ja! Weiterschreiben! Das Abenteuer nie aus dem Blick verlieren, auch schwarze Löcher nicht fürchten! Ich glaube, als ich das Buch von Doris Dörrie gelesen habe, wurde ich zum Wackeldackel … So oft, wie ich ständig mit dem Kopf genickt habe.
Die Welt der Doris Dörrie: „Jede Geschichte ist erzählenswert“
Doch Doris Dörrie wäre nicht Doris Dörrie, wenn sie bei den Themen Spiel und/oder Abenteuer stehen bleiben würde. Denn das zeichnet sie ja auch immer in all ihren Filmen aus: Alles sieht leicht aus. Und hat doch einen tiefen, ernsten, wahren Kern. Im Fall des vorliegenden Buches ist das die soziale Komponente des Schreibens/Erzählens. Wie ich finde: Ein Aspekt, der nie vergessen werden sollte. Und den beschreibt sie meiner Ansicht nach perfekt: „Wenn ich über Verlorenes schreibe, erinnerst du dich an Verlorenes. Wenn ich über Gewonnenes schreibe, erinnerst du dich an Gewonnenes. Die Erinnerungen verändern sich und wandern. Sie werden zu Geschichten, zu unseren gemeinsamen Geschichten, unserem Kosmos der menschlichen Erfahrungen, den es immer neu zu füllen gilt mit ihrer Einzigartigkeit. Deshalb ist persönliche Geschichte erzählenswert. Die genaue Beschreibung der Einzigartigkeit jedes einzelnen von uns bewahrt uns vor der Vorstellung, dass die Dinge klar und einfach sind. Sind sie nicht. Sie in all ihrer Widersprüchlichkeit zu beschreiben ist Waffe gegen Dogmatismus und Ausgrenzung. Allein deshalb sollten wir uns erinnern. Und schreiben.“
Kreativität ist überall
Genau dann macht Kreativität für mich am meisten Sinn: Wenn sie sich zeigt, wenn sie lebendig wird, handelt, handlungsfähig ist und macht. Kreativität ist niemals abstrakt. Da bin ich gedanklich auch sehr nah bei der Idee der „sozialen Plastik“ von Joseph Beuys. Die will ja ebenfalls über Kreativität und Handlung auf gesellschaftliche Prozesse einwirken. Vermutlich schreibe ich dies gerade nur darum, weil mir der Gedanke so wichtig ist, dass Kreativität viel größer und umfassender ist, als oft vermutet … Nicht umsonst bezeichne ich mich selbst auch gern als Kreativitätsdolmetscherin. Das fühlt und hört sich für mich einfach richtig an. Damit bin ich sicher nicht allein auf dieser Welt … Dazu gehören alle Menschen, die scheinbar Disparates zueinander in Bezug setzen können, setzen wollen. Ich wollte das immer. Und habe jetzt erst gemerkt, wie dicht dieser Wunsch an der Minimaldefinition von Kreativität ist. Die geht nämlich so: „Kreativität ist die Neukonstruktion bereits bestehender Informationen“. All unsere Erinnerungen sind solche „bereits bestehenden Informationen“. Und indem wir sie be-schreiben, konstruieren wir sie neu. So einfach ist das. Denn selbst das minutiöseste Schreiben kann niemals eins zu eins unsere Erinnerung, unsere Erfahrungen abbilden. Allein der Prozess des Schreibens wird da bereits zu einer „Neukonstruktion“ – ob wir das nun wollen oder nicht. Es passiert ganz einfach: Wir sind kreativ geworden. Vielleicht sogar, ohne, dass wir es gemerkt haben. Das ist wie beim Atmen: Wir müssen, wir brauchen es. Und merken meist nicht einmal, dass wir es tun. Darum finde ich auch den Titel dieses Buches so passend: Schreiben ist wie Atmen. Und Leben steckt/wirkt in beidem. Also „Leben – Schreiben – Atmen“. Daraus lässt sich fast schon eine Meditationsübung machen .. Was auch kein schlechter Ausgangspunkt für das eigene Schreiben ist.
Schreibratgeber?
Wer mich ein bisschen kennt, weiß, dass ich immer schon mit den meisten Schreibratgebern gehadert habe. Die besten, die ich gefunden habe, tragen dieses Wort nur selten im Titel. Wer mehr darüber lesen möchte: bitte hier lang. So auch das Buch von Doris Dörrie – denn im Grunde ist es ein Schreibratgeber. Aber eben keiner, der nach dem Gießkannenprinzip arbeitet … Ich vermute mal: Das hasst Doris Dörrie genauso sehr wie ich – und viele andere. Denn allen, die nur ein wenig nachgedacht haben, müsste klar sein: Schreiben ist so individuell wie die DNA. Da kann es niemals Tipps und Ratschläge geben, die für ALLE passen. Wer trotzdem ein Buch über das Schreiben publizieren möchte, kann das nur so tun, dass es extrem individuell wird. Doris Dörrie hat es getan. Ich auch.
Leben – Schreiben – Atmen bestellen
Das wundervolle Buch von Doris Dörrie ist im Diogenes Verlag erschienen, hat 271 Seiten, kostet 18 Euro. Und kann direkt beim Verlag hier bestellt werden. Oder überall sonst, wo es Bücher gibt.
In eigener Sache
Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch. Und trotzdem hat dieses Buch ganz klar im Untertitel stehen: „kein Schreibratgeber“. Damit möchte ich klarmachen: Mit dem „Gießkannenprinzip“ sollte hier nicht gerechnet werden!
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.