Lektorat, das. Immerhin: Das grammatikalische Geschlecht dieses Begriffs ist eindeutig. Bedeutung, Aufgaben, notwendige Intensität, Berufsbild oder Umsetzung dieser Tätigkeit jedoch waren noch nie sonderlich klar. Und werden mit allen Umstrukturierungen und Neu-Definitionen von Verlagswelt und Textproduktion ständig unklarer. Sogar die Richtung, in die sich all die Veränderungen bewegen, scheint mir nicht klar zu sein: Werden die Aufgaben eines Lektors, einer Lektorin komplexer, wichtiger, gradezu unverzichtbar im Prozess der Produktion von Text? Oder sind sie im Gegenteil verzichtbar, problemlos von automatisierten Korrekturprogrammen, allenfalls für ein paar Cent mit menschlichem Verstand und Fachwissen von miserabel bezahlten Menschen zu erledigen? Es liegt auf der Hand: Letzteres kann nicht der richtige Weg sein. Und doch wird zunehmend häufig versucht, damit zu arbeiten – zu verlockend scheinen vielen Anbietern die digitalen Möglichkeiten der Textarbeit.
Zum Glück habe ich bislang noch nirgends die Aussage gehört, Lektorat sei komplett verzichtbar. Im Gegenteil: Grade im derzeit stark expandierenden Geschäft zwischen selbst produzierenden Autoren und Online-Verlagsplattformen ist das Lektorat zu einem extrem wichtigen Werbe- und Verkaufsargument geworden. Dabei ist durchaus klar, dass dies nicht ausschließlich automatisch erledigt werden kann – die Korrektur reiner Schreibfehler manchmal schon, doch das genügt niemals. Denn Sprache ist so viel mehr als Rechtschreibung. Grammatik ist immer kontextabhängig, da ist der menschliche Verstand ebenso notwendig wie bei der Entscheidung darüber, welche Schreibweise denn nun richtig ist. Zum Beispiel, ob auf Loriots Rennbahn-Sketch die Pferde oder die Menschen laufen sollen: „Ja, wo laufen sie denn?!“ meint die Pferde – und macht einen großen Teil des Witzes aus. „Ja, wo laufen Sie denn?!“ würde den Gesprächspartner meinen – und den Sketch komplett unbrauchbar machen. Oder die Frage, ob Alkohol in kleinen, kontrollierten Mengen – also“ in Maßen“ oder massenweise („in Massen“) getrunken werden soll. Welcher Algorithmus sollte einem Korrekturprogramm in einem solchen Fall die richtige Entscheidung „beibringen“?
Nur Menschen können die im Einzelfall richtige Entscheidung treffen
In andren Fällen gehört die Grammatik zur „Handschrift“ eines Autors, macht einen Text erst richtig rund, unverwechselbar und ausdrucksstark. Ganz zu schweigen von den oft völlig absurden Vorschlägen gängiger Rechtschreibhilfen – haben wir alle schon erlebt. Ich behaupte: Selbst ein Laie merkt sofort, ob ein Text gut lektoriert ist oder nicht. Von der exakten Rechtschreibung bis zur Grammatik, von der inhaltlichen Stimmigkeit bis zum gesamten Sprachduktus. Texte können sympathisch und kompetent oder schwammig, unangenehm, aufdringlich, unsympathisch wirken. Ohne, dass Leserinnen und Leser genau sagen könnten, woran das denn jeweils liegt: Ein Gespür für „gute Texte“ haben wir alle. Und solch ein „guter Text“ fällt nicht vom Himmel. Er muss von Profis produziert und bearbeitet werden. Diese Arbeit aber funktioniert nicht ohne Nachdenken, persönliche Entscheidungen im Kontext des ganzen Textes, menschlichen Verstand, das professionell geschulte Gefühl für Sprache und die notwendige Sensibilität in der Umsetzung – also niemals durch welche Software auch immer. Das ist der eine Punkt.
Lektorat: so viel mehr als vermutet
Ein anderer Punkt ist die zunehmende Komplexität des Berufsbilds eines Lektors, einer Lektorin. Unter der Überschrift „Lektoren als Partner in Zeiten des digitalen Wandels“ beschreibt Cordula Natusch im Blog des Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren (VFLL) in ihrem Bericht über den Kongress „future!publish“ hier das Erstaunen ihrer Gesprächspartner, „wenn klar wurde, dass ich als Lektorin mich natürlich mit der Digitalisierung beschäftige.“ Da herrscht noch eine Menge Unwissen: Lektorat beinhaltet heute schon weit mehr, als die meisten Menschen vermuten. Ganz klar: Mit der Digitalisierung der Buch- und Verlagsbranche sind unzählige neue Aufgaben auf das Lektorat zugekommen, die vor allem von freien Lektorinnen und Lektoren selbstverständlich aufgegriffen, umgesetzt und als Dienstleistung angeboten werden. Die „Freien“ unter den Lektoren sind vermutlich die größte Gruppe dieses weitverzweigten Berufsbildes. Darum ist es jetzt an der Zeit, mal eine Klärung von Begriff und Berufsbild zu versuchen….
Begriffsklärung. Ein Versuch
Als Berufsbild definiert der Duden hier gleich schon die Königsdisziplin des Lektorats: den/die Verlagslektor/in als „Mitarbeiter, besonders bei einem Verlag, der Manuskripte prüft und bearbeitet, Projekte vorschlägt und Kontakt mit Autoren aufnimmt bzw. unterhält“. Hinzufügen wäre, dass Verlagslektoren häufig nicht unerheblichen Einfluss auf die Auswahl der Neuerscheinungen des laufenden Verlagsprogramms haben. In solcher Funktion wird die Bedeutung des Lektorats selten unter-, manchmal wohl eher überschätzt.
Ganz anders dagegen die Rolle des freien Lektors oder der Lektorin: Ihre Angebote werden leider häufig mit dem reinen Korrektorat verwechselt. Nicht ganz unschuldig daran waren schon vor über 20 Jahren beispielsweise freie Lektorate – wie das, in dem ich selbst einmal gearbeitet habe: Der Themenmix reichte da vom Groschenroman über die Geschäftsberichte einer Sparkasse bis zum Register einer mehrbändigen Reise-Anthologie. In solcher Bandbreite wird inhaltliche Arbeit unmöglich, da kann es nur um die Korrektur von Komma-, Schreib- und Satzbaufehlern gehen. Und der Begriff „Lektorat“ führt dann komplett in die Irre, denn das entspricht exakt der Aufgabenbeschreibung eines Korrektorats. Doch mein damaliger Chef ist keineswegs der Einzige, der da – absichtlich oder unabsichtlich – Begriffsverwirrung betreibt. Tatsache ist: Korrektorat ist Teil des Lektorats. Doch Lektorat ist sehr viel mehr.
Idealerweise definiert sich das Lektorat über seine Aufgaben. Das können Übersetzungen sein, große Fachgebiete, also „Wissenschaftslektorat“ in Medizin, Technik etc. Dazu kommen Werbetexte, Produktbeschreibungen, die interne Unternehmenskommunikation mit ganz eigenen Sprachrichtlinien und vieles mehr.
Da aber das Lektorat – im Gegensatz zum Korrektorat – immer „das große Ganze“ im Blick hat, erweitern sich die Aufgaben des Lektorats ständig. Zum Beispiel in Richtung der Produktionsschritte eines Printprodukts: Der Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren VFLL etwa nennt dies das „producing“: „Vor dem Hintergrund der technischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen in der Verlagswelt entwickelte sich das Arbeitsfeld des Producers, der sämtliche Lektorats- und Herstellungsarbeiten für Verlage und andere Kunden übernimmt. Das Spektrum der Dienstleistungen reicht von der Idee zum Buch bis zur Druckabwicklung.“ (Das Zitat steht hier) Lektoren, die sich derart definieren, übernehmen dann im Bereich der Printprodukte also beispielsweise auch Layout, Satz, Umschlaggestaltung und/oder Druckabwicklung.
Und dann noch „das Digitale“!
Dann kommt jetzt noch der ganze Bereich der Digitalproduktion einschließlich des Lektorats von Texten für Social-Media-Kanäle hinzu: Self-Publishing, E-Books, Newsletter, Blogs, Online-Magazine und und und. Plus all der Herstellungsarbeit für die digitalen Text-Produkte. Denn gute Lektoren kennen sich nun einmal bestens mit Formatierungsregeln aus. Und die sind in der digitalen Herstellung mindestens ebenso wichtig wie im Buchdruck. Wirklich von Bedeutung wird immer mehr auch das Geschäft mit den SEO-Regeln, das Formulieren eines Textes, der von Anfang an den Parametern der wichtigsten Suchmaschinen entsprechen, also von Grund auf neu und anders aufgebaut werden muss als früher. All dies kann ein Lektor, eine Lektorin anbieten. Muss aber nicht.
Abgrenzungen
Zusammenfassend würde ich sagen: Die Grenzen des Lektorats „nach unten“ sind halbwegs eindeutig fassbar: Korrektorat ist ein klar umrissener, eigener Arbeitsbereich, idealerweise Teil des Lektorats. Allerdings fällt schon hier Laien wie manchen Profis die Abgrenzung nicht leicht.
Viel schlimmer wird die Abgrenzung der Aufgaben, wenn sie sich ständig erweitern: um Herstellung und Internationalität, etwa bei Übersetzungen und allen damit verbundenen (beispielsweise rechtlichen) Fragestellungen. Oder bei Wissenschaft, Technik etc. und all dem dazu notwendigen Fachwissen. Bei der Digitalisierung und Umsetzung von Text in das entsprechend notwendige digitale Format – das stark variiert. Jeder Lektor, jede Lektorin hat eine andere Spezialisierung, denn all das gleichzeitig zu leisten, dürfte unmöglich sein. Das alles macht es so schwierig, eine allgemein gültige Definition für „Lektorat“ zu finden.
Dann auch noch das!
Außerdem habe ich noch gar nicht erwähnt, dass in manchen Stellenausschreibungen Lektoren für Kreuzfahrtschiffe gesucht werden. Das sind dann Experten zu bestimmten Wissensgebieten, die sich an Bord und auf Exkursionen um die Bildung der Kreuzfahrtteilnehmenden kümmern. Und auch die beiden großen christlichen Kirchen kennen Lektoren: In der katholischen Kirche darf ein Lektor liturgische Texte im Gottesdienst verlesen, in der evangelischen Kirche sogar in Vertretung des Pfarrers ganze Gottesdienste abhalten. Natürlich sind diese letzten beiden Beispiele ziemlich exotisch und haben mit dem Grundbegriff „Lektorat“ nur wenig zu tun. Allerdings macht es die ohnehin schwierige Definition des Begriffs nicht grade einfacher, dass es auch noch diese Einsatzmöglichkeiten der Tätigkeit als Lektor/in gibt.
Fazit Begriffsklärung Lektorat
Mein Fazit aus diesem – noch lang nicht abgeschlossenen – Versuch einer Begriffsklärung:
- Egal, um welche Textart es geht: Lektorat ist unverzichtbar. Es ist niemals automatisierbar, sondern muss von professionell geschulten Menschen erledigt werden.
- Lektorat kann frei oder im Kontext eines Unternehmens (z.B. Verlag) angeboten werden. Dementsprechend variieren Zielsetzung und Aufgaben.
- Lektorat ist NICHT gleich Korrektorat.
- Lektorat kennt sehr viele unterschiedliche Bereiche der Spezialisierung.
- Die Aufgabenbereiche des Lektorats verändern und erweitern sich ständig.
- Ein guter Lektor/eine gute Lektorin bietet viele zusätzliche Dienstleistungen rund um das Kerngeschäft an – vor allem freie Lektorinnen und Lektoren tun das. Ein Überblick über all diese Dienstleistungen ist schwierig, aber lohnend.
- Lektorat ist sehr viel mehr als eine für jeden Text notwendige Dienstleistung, kann nicht automatisiert werden und ähnelt in seiner Vielfalt manchmal stark der häufig gesuchten eierlegenden Wollmilchsau… Darum: Unterschätzen Sie niemals die Kraft des Lektorats!